Erste Schritte-Aktuelles

Die Reise hat begonnen. An dieser Stelle berichten wir fortlaufend über unsere Arbeit, neue Erkenntnisse, Fortschritte, Sackgassen und hoffentlich nicht zu oft! – Rückschritte.

12. Juli 2024

Von Ägypten auf die Alb! – Materialanalyse der Glasnuppe


© Yvonne Mühleis, Landesdenkmalamt Baden-Württemberg

Die kleine grünbläuliche Glasnuppe, im Vorjahr auf einem Maulwurfshaufen gefunden, wird in Weimar von Oliver Mecking untersucht, dem Laborleiter des Landesdenkmalamtes in Thüringen. Mit einem Laser bohrt Mecking in das Glas ein Loch, es ist 0,12 Millimeter dünn, doppelt so dick wie ein menschliches Haar. Der Laser verdampft dabei das Glas zu Gas, das vermischt mit Helium und Argon durch ein Massenspektrometer geschossen wird, einem LA-ICP-MS, das die Atome von 60 verschiedenen Elementen zählen kann.

Das Ergebnis überrascht alle Fachleute: Der gemessene Eisengehalt liegt unter einem Prozent. Selten hat Mecking ein so reines Glas vermessen. Der Sand, den die Glasmacher verwendeten, war sorgfältigst ausgewählt. Die Bewohner der heute vergessenen Burg konnten sich nicht nur teures Glas leisten, sondern sogar das allerteuerste. Natrium- und Magnesiumwerte sind ungewöhnlich hoch: Die Asche, die zur Herstellung des Glases verwandt wurde, stammt nicht, wie eigentlich erwartet, von heimischen Buchen, sondern aus dem Orient.

Womit sich, wie so oft bei diesem Projekt, ein neues Problem ergibt. Denn im Mittelalter hatte die Republik Venedig ein Monopol auf die begehrte Asche, die im Orient aus Halophyten, salzliebenden Pflanzen, gewonnen wurde. Hochwertiges Glas war eine wichtige Einnahmequelle für den Stadtstaat. Es ist aber nicht bekannt, dass die Venezianer Nuppenbecher hergestellt hätten, denn die sind bisher nur in Süddeutschland gefunden worden. Ist also die kleine Nuppe von Hohengenkingen ein später Beweis eines Schmuggels von Glasrohstoffen an Venedig vorbei? Welche Glashütte hat das Glas geschmolzen? Nur die besten Handwerker ihrer Zeit, sagt Laborleiter Mecking, seien hierzulande in der Lage gewesen, mit den Rohstoffen aus dem Orient umzugehen.

Ende März 2024

Zwei Erdkuhlen und ein Verdacht – das Gelände-Survey, Teil 1


© Thomas Bernhard

Fünf Studenten und zwei Studentinnen der Mittelalterarchäologie der Universität Tübingen ersteigen Ende März den Berg. Eine Woche lang werden sie das Burgumfeld untersuchen – angeleitet vom Archäologen Sören Frommer. Eine Lehrveranstaltung der Universität Tübingen. Sie teilen das Gelände in Sektoren auf, von A bis H. Wie schon im Vorjahr hat Frommer für die Forschungswoche den Übergang von Winter zu Frühjahr gewählt, weil jetzt der Boden am nacktesten ist, kein Schnee mehr liegt und noch kein Gras und Unterholz wächst. Als sie am ersten Tag die Bergspitze erreichen, finden sie sie jedoch größtenteils schneebedeckt. Zum Glück taut der aber bald ab.

© Thomas Bernhard

In zwei Teams laufen sie das Gelände ab. Das eine sucht mit einer Sonde nach Metall. Wo immer das Gerät piepst, wird die GPS-Position gemessen. Gegraben wird nicht. Sie wollen feststellen, wo wieviel Metall im Boden verborgen ist, um so erste Hinweise auf mögliche frühere Nutzungen zu bekommen. Noch ist die Burg ein einziges Rätsel. Noch kann keinem einzigen Bauwerk, keinem Areal eine Funktion zugewiesen werden. Wo wurde gewohnt, wo gekocht, wo gefeiert? Gab es eine Schmiede, Stallungen für die Pferde, Unterkünfte für das Personal, wo lag die Kapelle, die es vermutlich bei der Größe der Anlage gegeben hat, wo der Brunnen – denn immer noch ist eines der größten logistischen Rätsel: Von wo bekamen die Burgbewohner ihr Wasser?

Die zweite Arbeitsgruppe, eingeteilt in Dreierteams, durchkämmt Schulter an Schulter die Sektoren und sucht Scherben. Alle Funde messen sie ein. Bei Dachziegeln nur Funde, größer als ein Handy, denn zu viele Dachziegel bedecken das Areal. Mögliche Häufungen von Keramik oder deren Abwesenheit können Aufschlüsse geben. Die Arbeit kommt naturgemäß nur langsam voran – weil das Ganze eine Lehrveranstaltung ist und das Gelände zum Teil extrem steil.

Eine seltsame Beobachtung macht das Keramikteam auf dem Berggrat Richtung Süden: Als sie den Burggraben erreichen, hören die Funde plötzlich auf, um hundert Meter weiter, außerhalb der bisher bekannten Burg, wieder aufzutauchen. Auf dem Grat, kurz bevor er hundert Meter ins Tal hinabstürzt, gibt es zwei auffällige runde Vertiefungen im Boden. Ihre Funktion hatte schon länger Rätsel aufgegeben. Die Arbeitsthese nach einer Woche: möglicherweise Überreste von Gebäuden, die einem Burgweiler angehört hatten.

Burgen dienten nicht nur der Verteidigung, sie waren fast immer auch Wirtschaftsbetriebe, oft die wichtigsten Wirtschaftsstandorte in ihren ländlichen Regionen. Burgen unterhielten Mühlen, Werkstätten und waren oft auch landwirtschaftliche Betriebe – haben die Studenten erste Hinweise auf einen Burgbauern gefunden? Im nächsten Jahr soll dieser Frage in einem weiteren Survey nachgegangen werden.

Anfang März 2024

Die Forstarbeiter um Andreas Hipp schaffen das schier Unmögliche. Sie haben ein technisches System ausgetüftelt, wie sie die gestürzten Baumriesen abtransportieren können, ohne die Burg zu beschädigen – und ohne kostenintensiv einen Helikopter anmieten zu müssen. Sie erfinden eine Abfolge an Seilzügen aus Kabeln und Umlenkrollen, gestützt von noch stehenden Bäumen, über die das Sturmholz nach oben weggezogen wird. Fliegende Bäume!

Es gibt kaum Schleifspuren im Boden, jenem Boden, der den Forschern alles ist, das Archiv aus Erde und Lehm, in dem die Geheimnisse vieler Jahrhunderte verborgen sind.

Große Erleichterung!

Ende Januar 2024


© Wolfgang Bauer

Das Landesdenkmalamt, das um unsere große Not weiß, hilft bei der Aufarbeitung der Sturmschäden. Frommer & Co. haben die fünf aufwändigsten Baumkrater untersucht, es gibt aber noch drei Dutzend weitere. 250 Bäume, manche so alt, dass sie zu Lebzeiten von Goethe junge Triebe waren, sind gefallen. Für drei Tage ziehen die Grabungstechnikerinnen Fiona Vernon und Steffi Brose auf den Berg und suchen die Wurzelteller und aufgerissenen Löcher ab. Auch sie stoßen auf eine erstaunliche Fülle an Keramik, neu: Knochen. Unterhalb der obersten Terrasse, auf der die Fachleute mittlerweile den Palas vermuten, das Wohngebäude der Adeligen, finden sie unter anderen den Schenkelknochen einer Kuh. Der erste kleine Einblick in die Küche der früheren Burgbewohner.

10. Januar 2024

Die Aussicht des Türmers – eine erste Sichtfeldanalyse.


© Thomas Krüger

Eine große Hilfe bei der Beantwortung dieser Frage kommt in diesem Winter vom freiberuflichen Geografen Thomas Krüger, der neu zum Projekt dazugestoßen ist.
Er erstellt – ehrenamtlich! – mit Hilfe von digitalen Karten eine Sichtfeldanalyse für den Hohengenkingen und die anderen beiden Burgen des Genkinger Systems. Die Türmer der Burg, so das Ergebnis, konnten drei Bergpässe auf einmal einsehen.

Das Erstaunliche: Die umliegenden Dörfer, die in den Talsenken lagen, sahen sie nicht. Sogar das nächste Nachbardorf Genkingen, das der Burg seinen Namen verlieh, nur zwei Kilometer südlich, blieb dem Türmer verborgen – mit Ausnahme einer kurzen Gasse am Ortsrand, der „Burgstraße“. Bis Ende der Sechziger Jahre waren dort noch die Überreste einer viereckigen Wallanlage zu sehen. In einer Zeit, als der Denkmalschutz noch weniger galt, baggerte man sie für den Bau eines Mehrfamilienhauses einfach weg, zusammen mit den Resten massiver Grundmauern. Vermutlich stand hier die Ortsburg. Eine weitere stand auf einem Bergsporn außerhalb. Sie alle gehörten vermutlich einer Familie, sie alle hatten Sichtkontakt zueinander.

Richtung Norden bestand Sichtkontakt zu mindestens vier Burgen, im Westen zu mindestens dreien: im Mittelalter eine Landschaft aus aufragenden Türmen. Schriftliche Quellen legen nahe, dass viele Familien, die diese Burgen bewohnten, untereinander verwandt waren. Dass sie über ihre Türme Nachrichten austauschten, ist anzunehmen. An mindestens zwei weiteren wurden Bruchstücke von Signalhörnern gefunden. Sie konnten aber nicht dazu gedient haben, sich von Burg zu Burg zu verständigen, die Distanzen waren zu groß – das belegen die Messungen von Felix Rösch.

Bliebe noch Feuer und Rauch als Kommunikationsmittel. Im Alpenraum war die Methode verbreitet. Die Systeme der Kreidfeuer, wie man sie nannte – Kreid vom lateinischen quiritare, was „um Hilfe schreien“ bedeutet – querten an mehreren Stellen den Gebirgszug von Bayern bis nach Italien. Die Sarazenen, die die italienischen Küsten mit Wehrtürmen versahen, konnten mit Rauchsignalen, so heißt es, innerhalb eines halben Tages die gesamte Küstenbevölkerung vor Piratenüberfällen warnen. Noch früher setzten die Legionäre des römischen Limes für Signale Fackeln und Feuer ein.

An der Universität Bamberg hat der Archäologe Rainer Schreg zu den Signalhörnern geforscht. Er glaubt, dass die Hörner nicht nur zu Warnrufen gebraucht wurden, sondern eine Vielzahl an Funktionen hatten, weil man sich von ihnen immer noch ein wenig das Göttliche des Rolandshorns versprach. „Vielleicht war ihr Bedeutungsgehalt wichtiger als ihr Ton.“ Man nahm sie mit auf die profane Jagd, kommunizierte innerhalb der Burg mit ihnen, setzte sie womöglich auch als Wetterhorn ein, um Gewitter zu vertreiben, Hagel und Sturm, Dämonen und böse Geister. In Westfalen war dies noch bis ins 19. Jahrhundert Brauch.

Das Horn, das Leben retten konnte, mit dem man in der Not um Hilfe rief, im Unwetter dem Heulen des Windes etwas entgegensetzen konnte, war, so mutmaßt Schreg, wohl auch ein Symbol der Macht. Ein Statussymbol. Ein Engel, besagt das Rolandslied, habe das Horn dem Kaiser gegeben, der es dann an Roland weitergab. Eine Insignie irdischer Autorität. Wurde das Horn des Hohengenkingen als Zeichen von Herrschaft getragen?

Herrschaft in der Höhe – aber wer herrschte auf dieser Burg? Wer baute sich hier ein ganzes System an Burgen, um dann doch wieder unterzugehen?

Januar 2024

Ein besonderer Fund – die Sirene Gottes


© Ilja Frenzel / © Sören Frommer

Noch eine Scherbe wird kurz nach dem Sturm in einem der Wurzellöcher gefunden, eine aus Keramik, grau, seltsam bestrichen, leicht gekrümmt, kein Bruchstück eines Gefäßes, etwas ganz anderes. Sören Frommer betrachtet sie von allen Seiten, dann ist er sich sicher: Nach Jahrhunderten, in denen der Hohengenkingen verstummt war, wird dieser Fund der Burg ihren alten Klang zurückgeben.

Die Stimmen versagten ihnen.
Furcht breitete sich aus.
Die Steinhäuser zitterten.
Die Erde bebte.

Am Ende einer langen Schlacht, als alle anderen um ihn herum gefallen waren, so erzählt eines der berühmtesten mittelalterlichen Vers-Epen, das Rolandslied, blies der Held mit letzter Kraft in sein Horn, um Hilfe zu rufen. Die Hilfe kam. Das christliche Heer des Franken Karl des Großen hörte den Ruf und schlug die Armee der muslimischen Sarazenen. So verzweifelt hatte Held Roland das Horn geblasen, dass seine Halsschlagader barst. Der Held starb, seine Legende lebte weiter, und das Mittelalter hatte eine Reliquie mehr: das Rolandshorn. Ein Horn, dass göttlichen Zorn entfesselte.

Das Horn, das angeblich dem Heer Karls des Großen zum Sieg verhalf, dem man Wunderkräfte zusprach, gemacht aus dem Ende eines Elefantenstoßzahns, wurde quer durch Westeuropa in Töpferwerkstätten kopiert. Zunächst offenbar, das haben archäologische Grabungen ergeben, konzentrierte sich die Produktion der Keramikhörner in der Umgebung Aachens. Pilger, die zur Krönungsstätte deutscher Könige zogen, zum Aachener Dom, trugen diese Hörner mit sich. Noch heute wird dort im Domschatz das angebliche Original des Rolandshorns verwahrt.

Archäologen finden Bruchstücke der Kopien aus Keramik vor allem auf Burgen. Der Siegeszug des legendären Rolandshorns hatte es im Mittelalter sogar bis hierher geschafft, in die Mauern des Hohengenkingen, dieser heute abgelegenen Burg.

Die Maße der Scherbe – 7,3 Zentimeter lang, 4 Zentimeter breit. 7 bis 10 Millimeter dick. Archäologe Frommer schätzt, dass das Fragment zu einem 30 Zentimeter langen Exemplar gehört haben müsste. Vermutlich war es leicht gebogen. Das Bruchstück eines zweiten Signalhorns wird im Frühjahr 2024 unterhalb der westlichen Ringmauer gefunden.

Michael Kienzle von der Universität Tübingen, ebenfalls beteiligt am Projekt, hat ein vermutlich modellgleiches Signalhorn von einer Keramikwerkstatt nachbauen lassen. Der Ton: erinnert an den Schrei einer heiseren Eule. Tief und hohl, aber nicht sonderlich laut. Eine nur ferne Erinnerung an das durchdringende Rolandshorn. Wozu dienten diese Keramikhörner also wirklich?

Als einer der ersten Forscher hat der Archäologe Felix Rösch die Probe aufs Exempel gemacht. Über zwei Jahre lang hat er zusammen mit mehreren Studenten das Turmsystem der Göttinger Landwehr im südlichen Niedersachsen untersucht. Im 14. Jahrhundert, zeitgleich zum Burgleben auf dem schwäbischen Hohengenkingen, hatten die Göttinger Stadtherren ein Netzwerk aus 21 Türmen in ihr weiteres Umland gebaut. Sie bezahlten Turmwächter, die die Stadt frühzeitig vor anrückenden Feinden warnen sollten.

Im Zentrum dieses Frühwarnsystem stand der Turm der Göttinger Stadtkirche, der mit 61 Metern alle anderen Türme überragte. Die kleine Arbeitsgruppe von Rösch wollte klären, wie die Turmwächter miteinander kommunizierten. Archäo-Akustik heißt dieser Forschungsansatz, Geräusche-Archäologie, eine Idee aus den USA, die erst langsam auch in Fachkreisen in Deutschland wahrgenommen wird.

Die Suche nach dem Klang der Vergangenheit ist eine aufwendige, denn der Lärm der Gegenwart ist oft zu erdrückend. In Göttingen ist es besonders das ständige Rauschen der A7, die quer durch das ehemalige Frühwarnsystem führt. Die Arbeitsgruppe von Rösch musste alle neueren Bauwerke aus ihren Rechenmodellen entfernen, Oberflächenhindernisse wie neu aufgeforstete Wälder, neue Siedlungen, Fabriken und Industriekomplexe. Sie nahmen dazu alte Flurkarten des 18. Jahrhunderts zu Hilfe, digitalisierten sie in langen Nächten, fütterten damit handelsübliche Lärmsimulations-Programme, mit denen sonst zum Beispiel die Gutachter bei Nachbarschaftsstreitigkeiten störende Geräuschpegel messen. Mit ihrer Hilfe lassen sich Schallachsen und Schallausbreitung kalkulieren.

Vier Arten von Hörnern, die die Turmwächter des Mittelalters benutzt haben könnten, testete Rösch sodann auf ihre Reichweiten. Ein professioneller Hornbläser spielte sie auf offenem Feld, möglichst gleichförmig, ein Oszilloskop maß. Die Ergebnisse:

  • ein Jägerhorn aus Messing: 13,24 Kilometer.
  • ein Kuhhorn: 7,39 Kilometer.
  • ein gebogenes Keramikhorn: 2,71 Kilometer.

Warum aber finden sich so viele Keramikhörner auf Burgen, wenn sie doch selbst dem Kuhhorn unterlegen waren? Eine offene Frage. Die Hörner von Kühen sind in den seltensten Fällen erhalten, weil sie schlicht verrotteten. Gleiches gilt für die Messinghörner – sie wurden in der Zwischenzeit häufig eingeschmolzen. Außerdem konnten sie sich nur sehr betuchte Turmherren leisten. Keramikhörner überdauerten die Zeit, wenn auch nur in Bruchstücken. Selten werden größere Teile gefunden.

Mit wem, fragen sich jetzt die Erforscher der schwäbischen Burg, hätte die Burgbesatzung Signale austauschen können? Der Hohengenkingen ist auf einem 861 Meter hohen Gipfel gebaut, der sich über das gesamte Umland erhebt. Die Forschungen der letzten Monate haben ergeben, dass der Hauptturm der Burg bis zu 30 Meter hoch gewesen sein könnte. Bei schönem Wetter sieht man von hier aus sogar die Schweizer Alpen.

8 Nächste Schritte